Exkurs: Die ÄPB in der regionalen Presse in Zeiten von Corona 28 STADT GIESSEN Nr. 114 | Samstag, 16. Mai 2020 Viel Kreativität statt Frust Was macht Corona mit Jugendlichen? Wird es ein prägendes Jahr der Verluste? Oder werden neue Erfahrungen sie stärker machen? Niemand kann das heute schon sagen. Wer wissen will, was junge Menschen bewegt, sollte zuhören, nachfragen und sich mit vorschnellen Ratschlägen zurückhalten, sagt der Psy- chologe Peter Siemon. VON CHRISTINE STEINES Chillen im Schwimmbad, mit Freunden feiern, tan- zen, trinken – das darf in diesem Sommer nicht stattfinden. Jugendliche sind enttäuscht und frus- triert. Das ist verständlich. Wie sollten Erwachsene damit umgehen? Erwachsene sind ebenso ent- täuscht und frustriert. Mit Ju- gendlichen kann man das gut thematisieren. Man kann Ver- ständnis zeigen, sollte nichts beschönigen und auch ruhig mal die eigene Betroffenheit äußern. »Dass ihr nicht am See fei- ern könnt, tut mir leid, das ist wirklich schade« ist besser, als auf die vielen Sommer zu verweisen, die noch kommen werden… Auf jeden Fall. Diese überlege- ne Warte ist nicht hilfreich. Ei- ne gute Idee kann es sein, Bündnisse zu schaffen. Viel- leicht gibt es ein Projekt, was schon länger »auf Halde« liegt und nun angegangen werden kann (Fahrradtour, Reparatur, Tischtennis-Familienturnier etc.). Wir machen etwas ge- meinsam! Jugendliche haben das Ge- fühl, um wichtige Dinge in ihrem Leben betrogen zu werden. Die Feiern nach dem Abi, der Schüleraus- tausch in den USA oder »Work and Travel« in Australien, all das fällt flach.Wie kann man da helfen? Ja, das ist im Einzelfall sehr bedauerlich, das ein oder an- dere auch nicht nachholbar. Die beschriebene Frustration ist uns aber bisher jedoch we- niger begegnet. Bisher hatten wir nicht den Eindruck, dass Jugendliche sich »betrogen« fühlen. Was erleben Sie stattdes- sen? Vielmehr finden wir es span- nend, wie kreativ mit der Si- tuation umgegangen wird. Und es ergeben sich auch im- mer wieder Alternativen. Ein 17-jähriger Realschüler berich- tete mir, dass der geplante Afrika-Aufenthalt mit der Schule zur Unterstützung ei- nes Hilfsprojektes vor Ort we- gen Corona abgesagt werden musste. Für dieses Projekt hat- ten sich in der Klasse mehrere Jungen und Mädchen über ein Jahr lang mit ihrem Lehrer vorbereitet und ganz viel Zeit investiert. Nun gab es im Nachgang das Versprechen der Schulleitung, dass dieses Un- terfangen im nächsten Jahr nachgeholt werden soll – da- mit hatte man zunächst nicht gerechnet. Es gehört zum Erwachsen- werden, sich etwas zuzu- trauen, Dinge zum ersten Mal zu tun und sich von Keine Zeit mit der Clique verbringen zu können erleben Jugendliche in der Pandemie als Verlust. (Foto: Panthermedia) den Eltern abzunabeln. Das alles wird verschoben. Auch die erste Liebe ist mit 1,5 m Abstand schwierig. Drohen hier ernsthafte Krisen? Die Mehrheit von uns ist ver- mutlich gut gerüstet, negative Zeiten wie die jetzigen ohne gravierende psychische Folgen zu verkraften. Und es bleibt zu hoffen, dass ein Teil der Ju- gendlichen sogar gestärkt oder mit neuen Erkenntnissen, z. B. im Umgang mit der eigenen Gesundheit, diese Phase meis- tern wird. Welche neuen Erkennt- nisse könnten das sein? Da ist einiges vorstellbar. Zum einen könnte der Einschnitt ein persönliches Stoppsignal sein, das Impulse gibt, bisheri- ge Verhaltensweisen zu über- denken. Man kann überlegen, wie man beispielsweise bisher mit Freundschaften umgegan- gen ist oder Dinge wertge- schätzt hat. Die Chance der Krise wäre eine neue Nachdenklich- keit oder Sensibilität… Ja. Wir alle wähnten uns ja bis vor Kurzem in einem Gefühl der Sicherheit und scheinba- ren Unverwundbarkeit. Dieses Gefühl ist erschüttert, und das kann uns zu neuen Einsichten führen. »So wie Ältere durch den Krieg geprägt wurden, werden wir vielleicht durch Corona und die Kli- makatastrophe geprägt«, sagte kürzlich ein Jugend- licher im Interview. Er empfindet diese Zeit of- fenbar als große Last in seinem Leben. Wie kann man dem begegnen? Aussage Das ist sicher ein gutes Bei- spiel dafür, wie wichtig es ist, genau zuzuhören, um wirk- lich zu verstehen, was er mit dieser verbindet. Wenn Sie in den letzten Jah- ren in der Beratung einmal die Erlebnisse von syrischen jun- gen Erwachsenen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Trennung von der Familie mit- bekommen haben, dann relati- viert sich dieser Vergleich si- cher etwas. Vielleicht hat er das aber auch anders gemeint, zum Beispiel, dass diese bei- den Themen generell und ak- tuell eine große Bedeutung für die junge Generation haben und die persönlichen Lebens- umstände erheblich beeinflus- sen können. Also besser noch mal ge- nau nachfragen als darauf hinzuweisen, dass ein Krieg unfassbare Gewalt und Terror mit sich bringt.. Auf jeden Fall. Besser nicht voreilig mahnend den Finger Peter Siemon Psychologe heben. Wenn er tatsächlich ge- meint hat, dass die derzeitige Situation mit Kriegserleben vergleichbar ist, kann man die eigene Irritation ruhig anspre- chen und seine Sichtweise hierzu erläutern. Deshalb ist es wichtig, zu erfahren, was genau mit dem Vergleich aus- gedrückt werden sollte, erst dann ist man wirklich »im Ge- spräch«. Dann stimmt es Ihrer Wahrnehmung nach, dass zu viel über die Befindlich- keiten von Jugendlichen, aber zu wenig mit ihnen gesprochen wird? Ich denke, da ist etwas dran. Sehr schnell ist man gerade in diesen Zeiten mit guten Rat- schlägen und Tipps dabei. Dies ersetzt aber nicht die Beschäf- tigung mit dem Einzelnen und die Bereitschaft, erst einmal gut zuhören zu wollen. Derzeit sehen sich die Jun- gen und Mädchen weder in der Schule noch beim Sport. Kontakte über so- ziale Medien sind hilfreich, aber kein Ersatz. Was tun? Was für uns Erwachsene noch immer neu und ungewohnt ist für viele Jugendliche ist, Normalität; online chatten, online spielen, Telefonate oder sogar Gruppenchats am PC, Tablet oder Handy. Da gibt es auch in der Pandemie-Zeit kei- nen Unterschied. Und treffen mit dem besten Freund oder der besten Freundin konnte man sich ja, immer. Eine Mut- ter erzählte mir ganz erfreut, dass sich ihre Tochter seit sehr ERZIEHUNGS- UND FAMILIENBERATUNG Ansprechpartner bei Problemen Die Ärztlich-Psychologische Bera- tungsstelle hat ihren Sitz in der Hein-Heckroth-Straße 28a (www.erziehungsberatung-gies- sen.de). Im Arbeitsschwerpunkt der Erziehungs- und Familienbe- ratung wenden sich Eltern, Fami- lien und Jugendliche aus Stadt und Landkreis Gießen allein oder zusammen an das Team. Die Themenfelder sind breit ge- streut: Probleme im familiären Miteinander, Beziehungskonflik- te, Erziehungsfragen, Ausbil- dungs- und Schulschwierigkei- ten, Trennungs- und Scheidungs- folgen etc.. Daneben besteht das Angebot der Einzel- und Paarberatung. Das Team besteht aus Pädagogen u. Psychologen. Träger der Beratungsstelle ist der Verein für Jugendhilfen Lepper- mühle. In der Corona-Krise sind die Mitarbeiter wie üblich telefo- nisch erreichbar (Mo. bis Do. von 9 bis 12 Uhr und 13.30 bis 17 Uhr sowie freitags von 9 bis 12 Uhr). Beratungen erfolgen tele- fonisch, alternativ über eine neu eingerichtete gesicherte E-Mail-Beratung oder per Video- Chat. Im Einzelfall finden Bera- tungen auch im direkten Kon- takt statt; Tel. 0641-4000740. und langer Zeit zu einer Fahrrad- tour mit ihrer Freundin verab- redet hätte. Aber die Clique fehlt, die in der Pubertät so wichtige Gruppenzugehörigkeit. Das stimmt, da braucht man auch nichts schönreden. Lehrer und Trainer im Sport kennen die ihnen an- vertrauten Jugendlichen, sie sehen im Idealfall, wenn etwas nicht stimmt. Dieses pädagogische Kor- rektiv fällt nun weg. Wie schätzen Sie das ein? Dieses Korrektiv ist wichtig und erweitert den Entwick- lungsspielraum von Kindern und Jugendlichen. Dennoch sehe ich keine prinzipielle Ge- fahr für die Entwicklung, wenn das pädagogische Lern- und Spielumfeld einmal pau- siert. Eine Ausnahme hierbei sind sicherlich zugespitzte Fäl- le von Kindeswohlgefährdun- gen, die bei den aktuellen Ein- schränkungen aus dem Blick geraten können – mit zum Teil gravierenden Folgen. In vielen Familien herrscht derzeit dicke Luft. Jeder geht jedem auf die Ner- ven. Was sollten Eltern vermeiden, und was raten Sie ihnen? Am wichtigsten für die El- tern aus meiner Sicht: einen Plan machen; wer macht was wann, wie kann das gehen? Miteinander absprechen. Und ruhig auch mal fünfe gerade sein lassen… Eröffnet das Zusammenrü- cken auch Chancen? Kann es Eltern und Kinder ei- nander näherbringen? Unbedingt, da sprechen Sie mir aus der Seele. Trotz aller Ängste und Schwierigkeiten, die Corona leider mit sich bringt: Unser Eindruck im Team ist, dass ganz viele Fami- lien – Eltern wie Kinder und Jugendliche – erstaunlich ge- fasst sind und sich z. B. ganz selbstverständlich an die Ab- stands- und Hygienevorschrif- ten halten. Das Mehr an Zeit zu Hause scheint so manches im Familienalltag zu ent- schleunigen und zu beruhi- gen. »Ich habe mich in den letzten Wochen so wenig wie schon lange nicht mehr mit meiner (pubertierenden) Toch- ter gestritten«, so eine Rück- meldung am Telefon. Dennoch muss man auch hier wieder sehen, dass eine Verallgemei- nerung selten möglich ist. In Familien, wo Betreuungsnot- stand herrscht, kann dies ganz anders aussehen. Wie haben sich die The- men in der Beratungsstelle verändert? Wir haben von Anfang an un- ser Beratungsangebot sehr fle- xibel gestaltet, um schnell auf aktuelle Anfragen reagieren zu können. Diese Anfragen sind auch gekommen – jedoch weniger als zunächst gedacht. Überrascht waren wir im Ein- zelfall, welche speziellen Aus- wirkungen Corona-Ängste auf Kinder haben können – z. B. dann, wenn Teenager die Ver- schlimmerung einer bestehen- den Angststörung beim eige- nen Vater mit kompensieren müssen. Bei der Mehrzahl der Anfragen stehen jedoch übli- che Anlässe im Vordergrund, das Corona-Geschehen tritt eher nebensächlich auf. TEIL 4 DER SERIE Oft wird über die Jugend ge- sprochen, selten mit ihr. In unserer Serie erzählten junge Menschen, wie sie die Coro- na-Pandemie erleben. Heute schildert der Psychologe Pe- ter Siemon (Leiter Ärztlich- Psychologische Beratungs- stelle), welche Erfahrungen sein Team macht. 19